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6.1.1 Voruntersuchungen mit Streifenziehversuchen

Derzeit steht eine große Zahl von Streifenziehanlagen zur Beurteilung von tribologischen Systemen der Blechumformung zur Verfügung. Die Ergebnisse der einzelnen Prüfstände sind häufig nicht miteinander zu vergleichen, da unterschiedliche Prinzipien und unterschiedliche Ausführungen eingesetzt werden (Kapitel 2.2.2). Die meisten Anlagen beruhen auf den drei in Bild 29 dargestellten Prinzipien.
Diese Prinzipien bilden unterschiedliche Ausschnitte aus dem Realwerkzeug ab. Es gilt zunächst die Frage zu klären, ob sich die Reibung in diesen Bereichen grundlegend unterscheidet, oder ob ein Prinzip zur Beurteilung der Reibung in allen Bereichen eingesetzt werden kann. Wenn sich die Ergebnisse deutlich unterscheiden, dann ist zu klären, ob ein Bereich dominiert oder ob alle Bereiche zur Beurteilung des Umformergebnisses berücksichtigt und je nach Bauteil gewichtet werden müssen.


Bild 29: Variantionsmöglichkeiten des Streifenziehversuchs

Um diese Zusammenhänge zu untersuchen, wurden am Institut des Autors alle drei Prinzipien auf einer Anlage unter identischen Bedingungen verglichen. Vier Bleche unterschiedlicher Topografie wurden ausgewählt und mit diesen Prinzipien beurteilt.
Als Meßgrößen dienen die maximale Kontaktnormalspannung / Rückhaltespannung und die Gleitreibungszahl. Die Möglichkeiten, die Gleitreibungszahl zu bestimmen und auszuwerten sind in der Literatur ausführlich beschrieben [66, 85, 86, 96]. Die maximale Kontaktnormalspannung / Rückhaltespannung wird im folgenden kurz erläutert.
Erläuterungen zur maximalen Kontaktnormalspannung
Im Flachbahnversuch erhöht man die Kontaktnormalspannung schrittweise. Bei jeder Stufe können verschiedene Gleitgeschwindigkeiten eingestellt werden, um die Reibungszahlen unter verschiedenen Beanspruchungsbedingungen zu messen. Die maximale Kontaktnormalspannung ist erreicht, wenn das Blech die Haftreibung nicht mehr überwinden kann und reißt.
Schon bei deutlich geringeren Kontaktnormalspannungen als der maximalen wird das Blech plastisch gedehnt. Das Fließen beginnt im gesamten Bereich zwischen den Werkzeugen und dem Teil der Anlage, in dem die Zugkraft aufgebracht wird. Durch die Dehnung verfestigt das Blech, und die Zugkraft steigt. Im Bereich der Gleichmaßdehnung wird die Blechbreite dabei kontinuierlich verringert. Mit steigender Zugkraft beginnt das Blech am Auslauf aus den Werkzeugen zu gleiten. Am Einlauf haftet das Blech noch, so daß es unter den Werkzeugen gedehnt wird. Die Fließscheide wandert mit steigender Zugkraft vom Auslauf zum Einlauf (Bild 30).

Bild 30: Dehnung des Bleches bei Erreichen der maximalen Kontaktnormalspannung im Streifenziehversuch in der Flachbahn

Wie im Stand der Erkenntnisse (Kapitel 2) beschrieben, glättet das Blech unter dieser Beanspruchung durch Kontaktnormalspannung bei gleichzeitiger Dehnung des Grundwerkstoffs deutlich ein. Ist auf dem Blech eine Topografie vorhanden, die bei deutlicher Einglättung eine niedrige Reibung aufweist, dann kann die Reibungskraft vom Blech noch übertragen werden, und das Blech beginnt zu gleiten. Bei einer Topografie, die im eingeglätteten Zustand zu hoher Reibung führt, reißt das Blech.
Die maximal erreichbare Kontaktnormalspannung ist damit ein Maß für die Reibung der bei Dehnung des Grundwerkstoffs eingeglätteten Topografie.
In realen Werkzeugen läuft vor der Entstehung von Einschnürungen oder Reißern ein vergleichbarer Prozeß ab. An einer hoch beanspruchten Stelle des Werkzeugs wird das Blech durch Kontaktnormalspannung beansprucht und gedehnt. Die Topografie glättet ein, und wenn die Reibung der eingeglätteten Topografie zu hoch ist, reißt das Bauteil.
Die Gleitreibung bei niedrigeren Kontaktnormalspannungen kann zwar ebenfalls den Materialfluß beeinflussen, zur Beurteilung des Versagens des Bauteils ist nach dieser Überlegung aber die maximale Kontaktnormalspannung geeigneter.

Mit Streifenziehversuchen, bei denen das Blech mit einer Seite auf einer festen Unterlage aufliegt, kann die Dehnung des Bleches nicht berücksichtigt werden. Der häufig angegebene Vorteil, daß auf Anlagen mit einseitigem Werkzeugkontakt auch einseitig beschichtete Bleche untersucht werden können, ist nur dann vorhanden, wenn bei Anlagen mit beidseitigem Werkzeugkontakt nicht beide Werkzeuge mit Reibungskraftsensoren versehen sind.
Werden mit dieser Methode verschiedene Bleche verglichen, dann ist zu berücksichtigen, daß sowohl die Blechdicke als auch die Zugfestigkeit des Materials die maximale Kontaktnormalspannung beeinflussen. Ein dickeres Blech mit höherer Festigkeit führt bei gleichen tribologischen Eigenschaften zu einer höheren maximalen Kontaktnormalspannung. In einer Versuchsreihe dürfen deshalb nur Bleche vergleichbarer Dicke und Zugfestigkeit beurteilt werden.
Im Umlenk- und Ziehsickenversuch wird die Kontaktnormalspannung zwischen Blech und Werkzeug über die Rückhaltespannung im Blech eingestellt. Höhere Rückhaltespannungen führen zu höheren Kontaktnormalspannungen über den Radien. Von einer bestimmten Rückhaltespannung an wird die Reibung so groß, daß das Blech die Rückhaltekraft und dazu die Reibung in den Radien nicht mehr übertragen kann und reißt. Je höher die erreichbare Rückhaltespannung liegt, desto niedriger ist die Reibung der in den Radien eingeglätteten Topografie.
Die Versuchsbedingungen der Voruntersuchungen mit den drei Varianten des Streifenziehversuchs sind in Tabelle 31 im Anhang aufgeführt. Bild 31 enthält die auf das EDT-Blech bezogenen maximalen Spannungen.

Bild 31: Vergleich von Streifenziehversuchen bei der Beurteilung von Blechen unterschiedlicher Topografie

Für den Flachbahnversuch werden von links nach rechts geringere Kontaktnormalspannungen erreicht. Links sind die Topografien demnach als günstiger zu beurteilen. Im Umlenkversuch sind die Bleche kaum zu unterscheiden. Der Grund für die geringe Differenzierung im Umlenkversuch ist in der kleinen Werkzeugfläche zu vermuten. Das Blech hat zwar eine Breite von 100 mm, in Zugrichtung liegt es aber nur über ca. 8 mm auf dem Radius der Umlenkwerkzeugs an. Dadurch sind die Reibkräfte im Verhältnis zu den Umformkräften gering, und Ungenauigkeiten in der Messung wirken sich stark aus.
Im Ziehsickenversuch liegt das Blech über eine längere Strecke am Werkzeug an als im Umlenkversuch, was zu einer deutlicheren Differenzierung führt. Die Reihenfolge der Bleche entspricht bis auf Blech LT2 dem Ergebnis aus dem Flachbahnversuch. Eine Erklärung für die günstigere Reibung von Blech LT2 in der Ziehsicke kann in den großen Spitzen der Topografie liegen. Durch die moderaten Kontaktnormalspannungen im Flachbahnversuch glätten diese Spitzen nicht weit genug ein, um die Reibung durch hydrostatisch wirkende Schmiertaschen und Quetschströmung zu senken. Unter den höheren Kontaktnormalspannungen im Ziehsickenversuch ist die Einglättung stärker, die reibungssenkenden Mechanismen können wirken, und die Haftreibung sinkt.
Zur Beurteilung der Gleitreibung, wurden die Reibungszahlen berechnet (Bild 32). In den bei Umlenk- und Ziehsickenversuch gemessenen Kräften sind sowohl Anteile aus der Reibung als auch aus der Biegung des Bleches enthalten. Um die Anteile zu trennen, wurden beide Versuche sowohl mit feststehenden Werkzeugen als auch mit nahezu reibungsfreier Umlenkung über Walzen durchgeführt. Die Differenz der Zugkraft von reibungsbehaftetem und reibungsfreiem Versuch entspricht der Reibungskraft. Zur Berechnung der Reibungszahl diente die Eytelweinsche Gleichung [66].
Es ist bekannt, daß diese Gleichung die lokalen Kontaktverhältnisse über dem Radius nicht  realistisch abbildet [86, 69, 77]. Sie stellt aber die einzige Möglichkeit dar, zumindest eine mittlere Reibungszahl über dem Radius zu bestimmen.

Bild 32: Vergleich der Reibungszahlen in unterschiedlichen Streifenziehversuchen

Die Gleitreibungszahl ist bei Umlenk- und Ziehsickenversuch deutlich höher als im Flachbahnversuch. Im allgemeinen sind die Kontaktnormalspannungen im Umlenkversuch höher als in der Flachbahn. Höhere Kontaktnormalspannungen führen aber meist zu niedrigeren Reibungszahlen [96, 117]. Eine mögliche Erklärung ist, daß die Topografie durch die Biegespannungen im Blechwerkstoff deutlich stärker einglättet, was zu einer größeren wahren Kontaktfläche und damit zu einer erhöhten Reibungszahl führt. Das Niveau der Gleitreibung liefert bei den unterschiedlichen Prinzipien keine vergleichbare Rangfolge.
Folgerungen

Die Vor- und Nachteile der Prinzipien für die Beurteilung der tribologischen Eigenschaften von Blech-Topografien sind in Tabelle 16 zusammenfassend gegenübergestellt.


Tabelle 16: Pro und Kontra verschiedener Varianten des Streifenziehversuchs

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